Flügelheilung: Die Auferstehung des einzigartigen „Lissabon-SL“
Die Geschichte dieses Mercedes-Benz 300 SL Flügeltürers ist einzigartig. Ehemals nach Lissabon ausgeliefert, auf Promenaden ausgeführt und in Rennen verschlissen, heilt das Fundstück jetzt bei einer Totalkur. Classic Driver berichtet exklusiv.
Ein beschaulicher Hinterhof im Suttgarter Speckgürtel. Allzu schnell fährt man am Betrieb von M&W Classic vorüber. Zu unscheinbar das Gebäude, zu versteckt die Zufahrt. Gut so, denn würde der Geschäftsgegenstand am Straßenrand parken, würden die Interessierten vermutlich Schlange stehen. Denn hinter den Werkstattmauern verweilen automobil Ikonen: 300 SL Flügeltürer und Roadster der legendären Mercedes-Benz-Baureihe W198. Die noch jungen Automobilkenner Miguel Morais und Mathieu Woehrle haben das Unternehmen gegründet und sorgen sich um die mondänen Stuttgarter Sportwagen.
Rund 20 dieser Fahrzeuge finden sich derzeit in den unterschiedlichen Werkstattbereichen der Benz-Spezialisten. Ein ganz besonderes Exemplar ist derzeit bis auf das blanke Aluminiumblech demontiert. „Dieser 300 SL ist ein Fundstück, welches erst kürzlich wieder auftauchte“, berichtet Woehrle. „Und zwar in Portugal“. Es handelt sich um ein seltenes NSL-Exemplar, also eines jener Flügeltürer, die bereits ab Werk eine Leistungssteigerung erhalten haben. „Ungefähr 280 Stück entstanden von den sogenannten NSL-Flügeln“, weiß Woehrle. Mercedes nannte diese Sonderausstattung damals umständlich „Motor mit Sonderteilen für sportliches Fahren“. Dahinter verbirgt sich ein klassisch mechanisches Motor-Tuning mit sportlich abgestimmten Motorenteilen und Abgasanlage, das den fulminanten Drei-Liter-Reihensechszylinder nochmals bissiger machte. Und die ehemalige Verkaufsrechnung aus dem Mercedes-Benz-Auftragsbuch gibt noch weiteren Aufschluss. Formal wurde das Fahrzeug korrekt als „300 SL Coupé“ bezeichnet. Es wurde am 5. März 1956 in Sindelfingen in schwarzer Lackierung und mit rotem Leder ausgeliefert und an die Norddeutsche
Spedition in Hamburg übergeben. Als Käufer ist C. Santos in Lissabon/Portugal notiert. Der Tachometer zeigte an diesem Tag 118 Kilometer. Das Fahrzeug trägt die Nummer 198040-6500045. Eben diese Nummer findet sich auch auf den portugiesischen Einfuhrpapieren vom 7. April desselben Jahres, die ebenfalls noch vorliegen. „Eine solch lückenlose Dokumentation, die sich in zahlreichen weiteren Dokumenten bei einem als verschollen geglaubten Flügeltürer fortsetzt, ist einfach phänomenal“, schwärmt Morais. Zudem ist eine schlüssig belegbare Historie gerade bei Fahrzeugen dieser Klasse ein wertbildender Faktor.Und überdies lässt sich die anstehende Vollrestauration einfacher umsetzen. Denn alle Sonderausstattungen des 300 SL Flügels sind ebenfalls vermerkt, wie zum Beispiel: „Scheibenräder mit Rudge-Naben 985-198“ oder eine „verlängerte Lenksäule SA 944-198“ wie auch das „Radio-Becker Le Mans mit Adapter Reims SA 55 041/1 mit Hirschmann-Antenne“. Zudem wurde auch ein Kilo der originalen Farbe als Lackgebinde mitgeliefert.
Alles „seemäßig in leichter Seekiste“ verpackt. Ordnung musste schließlich sein. So war das damals noch beim Daimler.
„Der 300 SL wurde dann auch zu Rennzwecken in Portugal eingesetzt, wie wir anhand historischer Rennberichte und Fotos wissen“, erzählt Mathieu Woehrle. Das macht das Exemplar zusätzlich interessant. Hierfür allerdings erhielt das Auto eine andere Lackierung in hellem Elfenbein. Die wird beibehalten – überhaupt wird das Auto in historischer Rennspezifikation aufgebaut, da die Bilddokumentation hierzu nahezu lückenlos ist. Dies gilt auch für die speziell angefertigte Zusatzluftzufuhr für die vordere Bremsanlage, die es damals ab Werk so nicht gab, für die Renneinsätze jedoch realisiert wurde. Damit profitiert der Matching-Number-SL von einer Totalrestauration, die in hohem Maße auf die vorhandene Originalsubstanz Rücksicht nimmt.
„Genau dies ist unsere Empfehlung“, berichten die Flügelheiler einmütig: „Soviel Originalmaterial wie möglich erhalten“. Auch bei Motor, Getriebe, Lenkung, Chassis und Achsen gilt der strenge Maßstab der Originalität. Selbst die ehemaligen Blechstärken der Karosserie werden gewahrt. Morais und Woehrle wissen, was sie tun. Auch wenn die Auferstehung eines Flügeltürers bis zu zwei Jahren Zeit beansprucht. Irgendwann fliegt er wieder, der Gullwing.
Text: Mathias Paulokat
Fotos: M&W Classic
Original-Artikel auf www.classicdriver.com